Da die BWL-Fraktion hier im Forum scheinbar stark vertreten ist, möchte ich doch gerne mal ein sehr spannendes Thema anregen und hoffe, dass wir hier eine kontroverse Debatte zustande bekommen. Kurzum, es geht um die alte Frage der Gerechtigkeit. Genauer: Es geht um die materielle Achse von Gerechtigkeit, also wie der Reichtum einer Gesellschaft verteilt werden sollte.
Wenn man dem alten Marx glauben schenkt, kann nur gerecht sein, wenn jeder einen gleichen Teil des Kuchens bekommt. Jeder bringt sich mit seinen Fähigkeiten in die Gesellschaft ein, alle bekommen aber das Gleiche. Ja es geht sogar noch weiter. In den Utopien Marx's gibt es kein Privateigentum mehr, aller Besitz ist vergesellschaftet und steht allen zur Verfügung. Ein schöner Traum ...
... aber praktisch nicht machbar, möchte jeder Mensch doch irgendwie mehr für sich selber herausschlagen als für andere. Die Bereitschaft sich für die Bereitstellung kollektiver Güter aufzuopfern steht und fällt mit den eigenen Vorteil, der dem Individuum daraus erwächst. Dieses haben liberale Theoretiker schnell erkannt finden eine auf absoluter (materieller) Gleichheit beruhende 'Entlohung' schlichtweg ungerecht. Gerecht kann nur sein, was sich an Leistung orientiert. Wer mehr leistet, muss auch mehr bekommen. Eine höhere Entlohung bzw. mehr Gewinn wird so, gekoppelt mit dem sozialdistinguierenden Faktor von mehr Besitz, zum Motor der Individuuen sich in die Gesellschaft einzubringen. Sie arbeiten in ihre eigene Tasche, gleichsam aber auch für die Gesellschaft.
Soweit also die Gegenüberstellung von marxistischen und liberalen Gerechtigkeitsgedanken. Ich hoffe ich konnte diese halbwegs umfassend definieren?! Wenn nicht, bitte ich um Ergänzung oder Korrektur.
Es ließe sich sicherlich schon an dieser Stelle heftigst über beide Modelle streiten. Die meisten von uns werden werden sich aber vermutlich beim zweiten wiederfinden und auf dessen Grundlage will ich ganz sozialkritisch fragen, ist das liberale Gerechtigkeitsmodel dabei, zu entarten?
Links gesprochen: Der Neoliberalismus enthebelt zunehmend die leistungsbezogenene Gerechtigkeit. Im Neoliberalismus werden für abstrakte Leistungen (beispielsweise das reine zur Verfügung stellen von und spekulieren mit Kapital) exorbitante Summen gezahlt, welche kaum mehr vernunftmässig als 'Gerecht' und schon gar nicht als 'Leistung' fassbar sind. Viel schlimmer aber ist, dass Leistungseliten zunehmend als politische Lobby auftreten und ihre Partikularinteressen durchsetzten. Der Sozialstaat wird abgebaut, Unternehmensgewinne und das eigene, private Vermögen gesteigert.
Das mag man als naturgegeben im Kapitalismus ansehen. Die Frage aber bleibt, ist das noch gerecht? Natürlich arbeiten Manager 70 Stunden oder mehr in der Woche und erbringen (rein materiell wieder) mehr Leistung als ein normaler Arbeiter/Angestellter mit seinem 40 Stunden Alltag. Die Relation aber macht den Unterschied. Während der Arbeitnehmer vielleicht seine 1.800 € Netto nach Hause trägt bringt es der Manager auf vielleicht 10.000 €. Während die Löhne der einen Einkommensgruppe stagnieren und in Zukunft -bedingt durch den Abbau des Sozialstaates- indirekt sinken, kann sich die andere Gruppe über Lohnsteigerungen freuen. Wo also wird die Grenze des (materiell) Gerechten durchbrochen? Wo steht die Leistung in keinem Verhältnis mehr zum Einkommen?
Wie weit muss die soziale Schere noch auseinanderklaffen? Man muss sich nur mal die USA anschauen, wo schon über 18% der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze leben (vgl. OECD Berichte ... gut zusammengefasst hier). Kann das etwa noch im Interesse des Liberalismus stehen oder transformiert sich -wie manche befürchten- das liberale System langsam zu einer Art Finanzadel, welcher zunehmend seine Partikularinteressen gelten macht, zu immer größeren Einheiten fusioniert, sich auf lokaler wie globaler Ebene nach unten hin schließt und gerade so dem Leistungsgedanken das Wasser zugunsten der eigenen Partikularinteressen abträgt?
Ist in einer globalisierten und von Großunternehmen dominierten Welt tatsächlich noch Platz für den Traum des Tellerwäschers zum Millionär? Oder aber wird der Tellerwäscher -ganz gleich seiner Fähigkeiten- ewig Tellerwäscher bleiben, weil die Mächtigen und Reichen eben keine Konkurrenz mehr zulassen wollen, müssten sie so doch um ihren Besitzstand fürchten.
Anders formuliert: Der Kommunismus ist eine Utopie, weil Menschen gerne mehr haben wollen als andere Menschen. Aber ist der Liberalismus vielleicht auch nur eine Utopie, weil diejenigen die schon mehr haben, auch alles versuchen werden, um ihren Besitzstand zu wahren?
Gerecht kann eine kapitalistische Gesellschaft nur dann sein, wenn sie Chancengleichheit als Axiom aller Gerechtigkeit setzt und dem individuellen Streben nach Mehr eine kollektive, verträgliche aber kontinuierliche Umverteilung von oben nach unten als Ausgleich entgegensetzt, so dass die soziale Schere nicht entartet.